Bauernkinder - die andere Kindheit. Zwischen Lieben und Losl-(H)assen!

Heute ist es soweit. Ich hole meine Kinder bei der Oma ab. Nichts Besonderes? 

Eigentlich nicht. Eine Woche Ferien bei der Oma auf dem Bauernhof. 

Unbeschwerte Zeit zwischen spielen im Garten unter Apfelbäumen und alten Eichen an einem idyllischen Fluss, hektischem Traktorverkehr im Hof und Kochen mit Oma. Alles kein Problem?

Als meine ältere Tochter etwa 4 Jahre alt war und ich sie ab und zu für eine Nacht bei Oma zum Babysitten unterbrachte, habe ich sie mit allen möglichen Gefahrensituationen vertraut gemacht und ihr genau erklärt, wie sie sich verhalten soll und wo sie nicht hingehen darf. 

Ich hatte Angst, dass sie allein im Garten in den vorbeifliessenden Fluss fallen könnte oder unbeachtet in die Maschinenhalle schleicht und sich an spitzen und scharfen Teilen verletzen könnte. Und wie sieht es mit dem Traktor- und Maschinenverkehr im Hof aus? Dass der Hof direkt an einer vielbefahrenen Straße liegt, war ein zusätzlicher Gefahrenquell und beschäftigte meine mütterlichen Instinkte.  

All diese Gedanken erinnerten mich an meine Kindheit auf dem Bauernhof. Ich war ein Bauernkind. War meine Kindheit wirklich so gefährlich, wie ich sie jetzt als Mutter nach all den Jahren empfinde?

Ich erinnere mich gut an all die “gefährlichen” Situationen meiner Kindheit. Vom ausgebüchsten Truthahn bis hin zum losgerissenen Hofhund. Vom Spielen zwischen Maschinen und Strohballen und von der Nähe zum Fluss. Vom Traktorfahren und dem Umgang mit der “Hacke”. Der Geruch von Schmieröl und dem vielfältigen Fundus in der Werkstatt.

Im Grunde liebte ich es Bauernkind zu sein. Was hieß das nun für mich im Umgang mit meinen eigenen Kindern? 

Letztlich konnte ich auch im "normalen" Leben nicht immer Hand in Hand mit meinem Kind gehen und es vor allen Gefahren schützen. Also war der Bauernhof ein idealer Übungsort für meine Kinder, um in einem geschützten Rahmen zu lernen, was gefährlich sein kann und warum.

Dieses BewusstSEIN half mir als Mutter Vertrauen zu entwickeln. Ich ging mit meinen Ängsten in Ver-BINDUNG und befreite mich Stück für Stück. 

Ich sprach mit meinen Kindern über mögliche Gefahren und erklärte Ihnen, was und warum es gefährlich sein könnte. Ich lernte aber auch zu vertrauen. Ins Leben, in meine Kinder, in meine Herkunftsfamilie und in mich, denn alles andere hätte unsere Möglichkeiten eingeschränkt und unser aller Wachstum. 

Der Bauernhof war ein guter Übungsort, um Selbständigkeit und Freiheit zu erlernen und zu erfahren und ich war froh, dieses Bewusstsein aus meiner Kindheit für mich zu integrieren. 

Bauernkind - Igitt du bist schmutzig!


Ich war mit allen Vorurteilen konfrontiert, die “normale” Kinder gegenüber Bauernkindern haben können. Ich wurde beschimpft und musste mit der Häme der normalen Kinder leben, weil sie einen Bauernhof mit einem Ort voller Schmutz und Gestank verbunden haben. Mein Nachname wurde in einen Tiernamen verwandelt und meine Zöpfe waren altmodisch. 

In der örtlichen Grundschule gab es ausser mir und meinem Zwillingsbruder gerade noch ein anderes Bauernkind in der Klasse. Bauernkind, das Ausnahmekind? 

Vieles war anders und vieles war für "normale" Eltern und Kinder nicht verständlich. Wie, du musstest am Wochenende bei der Ernte helfen? Was sind Zuckerrüben? Wieso fahrt Ihr nie in den Urlaub? Wieso haben deine Eltern keine Zeit fürs Sommerfest? Kartoffeln aus dem Kartoffelkeller? Spielen im Stroh? Schweine füttern? Samstags die Küche putzen und beim Einwecken von Obst helfen?

Bauernkind zu sein, hiess für mich vor allem, schon früh verantwortlich sein. Unbeschwerte Zeit gab es selten, weil sich alles nur um eins drehte: Den Bauernhof!

Mir wurde irgendwann bewusst, dass manche Kinder mich nicht besuchen und nicht mit mir spielen durften. Eltern wollten ihre Kinder vor den Gefahren des Bauernhoflebens schützen, ohne genau zu wissen, warum. Ob die Vorstellung und die daraus resultierenden Ängste der Eltern real waren? 

So war das damals, Ende der siebziger Jahre. Und wie ist es heute? Wie gehen Sie mit dem Thema "Gefahren" im Bezug auf Ihre Kinder um? 

BauernExistenz - Das Leben mit der Natur


Wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich viel an die Natur. Das Leben mit Ihr ist ein Leben in Abhängigkeit und dem Vertrauen auf den richtigen Instinkt im richtigen Moment. Ein Auf und Ab! Denn die Existenzbedrohung lag gleich hinter dem nächsten schweren Gewitter. 

Ich sehe meinen Vater im Sommer vom Mähdrescher aussteigen, von oben bis unten voller Staub und Dreck, während meine Mutter mit den letzten Wägen voller Weizen in den Hof gefahren war. Mein Vater hatte die letzte Fuhre eingebracht und war froh, es vor dem drohenden Gewitter geschafft zu haben. Es war der richtige Moment und das richtige Wetter. Ein Glücksfall!

Ich kenne unzählige Momente, in denen der Wassergehalt des Weizenkorns gemessen wurde, um festzustellen, ob man den Weizen nun schon ernten konnte oder nicht. Unzählige Anrufe bei der Wetteransage des deutschen Wetterdienstes, um zu erfahren, wie die Wetterlage eingeschätzt wird. Unzählige Male, in denen ich bei der Ernte mitfieberte, wenn mal wieder eine Maschine ausgefallen war und die Gewitterwolken am Himmel standen und meine Mutter eine Schale mit Weihwasser in den Hof stellte. 

BauernExistenz . Bedrohlich und erfüllend zugleich. 


Doch nichts war befriedigender, als das erste Radler nach getaner Arbeit spät abends am Brotzeittisch. Ich erinnere mich an den Duft meines Vaters nach Schweiss und Weizenstaub und seinem breiten Lächeln mit Zähnen so weiss, wie aus der Zahnpastawerbung. Dann, wenn alles gut lief. 

Und nichts fühlte sich bedrohlicher an, als der Moment, wenn die Zeit nicht mehr reichte, um die ganze Ernte einzuholen und am nächsten Tag die Schäden des Gewitters zu begutachten waren. In das sorgenvolle Gesicht meiner Eltern zu schauen und nicht genau zu wissen, wie es weiter geht. Damals, als man noch keine Versicherung für Ernteschäden hatte. Damals als noch alles vom Wetter abhing. 

Und so ist es nicht verwunderlich, dass Bauern heutzutage nach Alternativen und Unabhängigkeit vom Wetter suchen. Diese Unabhängigkeit hat natürlich ihren Preis, der sich im arbeitstechnischen Mehraufwand, den Mehrkosten und der Umweltbelastung ausdrückt.

Ob uns allen bewusst ist, welche außerordentliche Leistung von Bauern erbracht wird? Ob wir wertschätzen, dass es Bauern noch gibt? Ob wir aus diesem Grund nicht lieber auf die billigeren Waren aus Osteuropa verzichten sollten, um die Existenz der heimischen Bauern zu unterstützen? 

Schlachttag!


“Claudia, heute ist Schlachttag.”

Schlachttage waren meistens an einem Freitag. An einem “Schlacht-Freitag” nach der Schule in den Hof zu laufen, wo Menschen mit Kübeln voller Blut und Innereien rumliefen und der Geruch nach totem Tier in der Luft lag, waren mir ein Gräuel. Schlachthof-feeling wohin man schaute.  

Die Küche ähnelte einer Metzgerei und auf dem Ofen brutzelte das Schweinefett, das zu Griebenschmalz verkocht wurde. Meine Mutter ordnete das Fleisch an und ich wurde schon sehnsüchtig erwartet, um beim “Einbeuteln” zu helfen. Ich durfte kleine Zettel mit dem jeweiligen Inhalt für die Plastikbeutel des geschlachteten Fleisches beschriften, weil meine Schrift so schön war. Mein Traum! ;-)

Ausserdem war klar, dass ich selbst das Fleisch und die Wurst einbeutelte und half diese wegzuräumen. Es war Fleisch und Wurst vom selbstgezogenen Schwein, das uns “über den Winter brachte”. 

Schlachttag! Das bedeutete auch, nach getaner “Schlacht” am Tisch mit dem Metzger zu sitzen und bei Kaffee und Kuchen zu plaudern. 

Schlachttage waren vieles! Etwas zwischen Blutwurst und Kuchen. Zwischen Abschied vom Tier und Vorräte anlegen. Zwischen Demut und Übelkeit. 

Schlachttage fürs BewusstSEIN? Wo Fleisch eigentlich herkommt und wie es verarbeitet wird. 
Ein Gedanke. 

BauernkindExistenz: “Mama, wann kann ich gehen?”


Bauernhöfe waren und sind immer noch darauf ausgelegt, dass die Kinder bei der Arbeit mithelfen. Die Mitarbeit war ein Grundstock der bäuerlichen Existenz und wurde von den Kindern erwartet. Das “normale” Leben musste warten.

“Magst du heute mit ins Schwimmbad gehen?” Eine Frage, die ich erst beantworten konnte, wenn ich zu Hause war und klar war, dass ich heute frei habe. Gut, wenn sich meine Eltern einig waren, nicht gut, wenn ich zwar ins Schwimmbad ging, aber das schlechte Gewissen mich begleitete, weil meine Mutter meinen Vater “überzeugte”, dass das Kind heute mal Kind sein darf. 

Bauernkinder sind sehr stark mit der Existenz der Eltern verbunden, weil sie mit der Bauernexistenz leben, arbeiten und diese ein stückweit mit aufbauen. Diese Verbundenheit ist für den späteren Lebensweg nicht zu unterschätzen. 

Es geht für Bauernkinder eines Tages darum, sich von dieser aus Ihrer Kindheit geprägten Verbundenheit zur Bauernexistenz und zu Ihrer Herkunfsfamilie bewusst zu lösen, um frei und selbstbestimmt leben zu können. 

Beispielsweise war es für mich als junge Frau unklar, wann es Zeit für mich ist, meinen eigenen Weg zu gehen. Wann ist es ok, für meine eigene Existenz zu sorgen und mich auch existenziell von zu Hause zu lösen?

BauernkindExistenz und wann bin ich frei für mein Leben?


Als ich mit 23 Jahren auszog, um mit meinem damaligen Freund zusammenzuziehen, war ich zerrissen. Ist es jetzt der richtige Zeitpunkt? Bin ich nun nicht mehr verantwortlich dafür, jeden Samstag den Haushalt zu machen? Bin ich jetzt frei?

Ich nahm mir meine Freiheit und konnte meinen Vater damit besänftigen, dass ich schließlich mit dem Mann ausziehe, den ich irgendwann heiraten werde. Alles andere wäre für ihn eine sehr schwierige Vorstellung gewesen. 

Wachsen Bauernkinder traditioneller auf als andere Kinder?

Tradition hat aus meiner Erfahrung einen hohen Einfluss auf das Leben auf einem Bauernhof. Tradition birgt viele positive Aspekte wie Rituale pflegen, Werte schaffen, Kontakte aufrecht erhalten und das BewusstSEIN zu haben, dass uns das Leben unserer Vorfahren prägt und ein Teil unserer Basis ist. Unsere Familiensysteme.

Meine Eltern waren sehr traditionell eingestellt und Neuem gegenüber verschlossen. Sie trugen noch viele Themen aus ihrer vom Krieg geprägten Kindheit in sich und taten sich schwer, sich Fremden und Fremdem gegenüber zu öffnen. 

Offenheit, offene Kommunikation und über den Tellerrand schauen, war also nicht ihre Welt. Und ich? Tja, ich wollte mehr vom Leben. Die Vorstellung in jungen Jahren in einem Vorort mit Mann und Kind zu leben und damit zufrieden zu sein, erschien mir unwahrscheinlich. 

Und so kam ich in Konflikt mit mir und dem was ich als Kind erfahren und erlernt hatte. Konnte ich mich in positiver Weise befreien und das verwirklichen was ich wollte? War ich in der Lage, den Anfeindungen meiner Familie zu widerstehen und trotz allem eine familiäre Verbundenheit zu leben?

Es war schwer, aber ich hatte Helfer. Menschen, die mir halfen zu lernen, meinen Weg zu finden und zu gehen. Menschen, die mir beigebracht haben, mir ohne schlechtes Gewissen die Existenz aufzubauen, die mir gut tat und die ich leben wollte. Meine eigene freie Existenz. 


Was erfüllt mich, wenn ich nicht mehr Bauernkind bin?


Bauernkind zu sein, hat mich viel gelehrt. Ich durfte lernen, was es heisst körperlich zu arbeiten und mit dem Rhythmus der Natur leben zu müssen. Bauernkind sein lehrte mich auch, nicht zu zimperlich zu sein und Durchsetzungskraft zu entwickeln, wenn es darauf ankam. 

Bauernkind werde ich mit einem Anteil meiner Seele immer sein und ich bin dankbar dafür.

Als ich mein “neues Leben” begann, war ich vielerlei Widerständen ausgesetzt. Vom älteren Bruder, der mich davon überzeugen wollte, in der Beziehung mit dem Mann zu bleiben, den ich einst heiraten wollte, über unverständliche Blicke, wenn ich davon erzählte, alleine zu reisen und dem Kopfschütteln, als ich beschloss, für einige Monate ins Ausland zu gehen. 

All das war mir als Bauernkind nicht beigebracht worden. Für all das gab es kein Verständnis. Ich blieb mir treu und mein Seelenwunsch wurde mit meinem Willen und meinem Durchsetzungsvermögen synchronisiert und dadurch real. 

Und meine Familie? ...hat es irgendwann akzeptiert und teilweise auch integriert, weil es ein Teil von mir ist und ich ein Teil meiner Familie bin. 

Ist das Evolution?

Die Prägungen der Kindheit sind stark, für alle von uns. Wir alle sind hier, um zu SEIN, uns einzubringen und zu leben, was wir sind und was uns erfüllt. Unser SEIN hat Einfluss.

Wir alle haben die Möglichkeit unser Potenzial zu entfalten, wenn wir BewusstSEIN darüber erlangen, wer wir sind, was wir wollen und was unser Herz und unsere Seele singen lässt. 

Wann lassen Sie Ihr Herz und Ihre Seele singen?

Neu: Kurse und Workshops unter www.claudiatimmins.com. 


Ich freue mich sehr über Eure Beiträge oder Eure Geschichten über  die "andere Kindheit". Egal welche Art von "anderer Kindheit" Ihr hattet. Schreibt mir! Gerne auch auf English. 

Email: coaching@claudiatimmins.com


Von Herzen. Claudia



















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